Der heutige Reisetag wird, gemessen an der gefahrenen Strecke, unser längster in Japan. Über 1.000 Kilometer werden wir mit dem Shinkansen zurücklegen, auch wenn es sich wegen der hohen Geschwindigkeit auf der Schnellfahrstrecke überhaupt nicht so anfühlt. Tag 6 ist ein Samstag und somit Zeit, den Touristenmassen so gut als möglich aus dem Weg zu gehen. Das Tagesziel ist passend dazu eine etwas weniger stark frequentierte Region. Wir fahren heute in den Norden Kyūshūs, der südlichsten der vier großen Hauptinseln Japans. Eine Meerenge, die an ihrer engsten Stelle nur rund 700 Meter schmale Kanmon-Straße, trennt Kyūshū von der größten Hauptinsel Honshū. Die San’yō-Shinkansen unterquert diese Meeresstraße in einem Tunnel, der Kyūshū an das landesweite Hochgeschwindigkeitsnetz anschließt. Zur Reise in die Stadt Fukuoka, der größten auf Kyūshū, nutzen wir heute den selben Zug, mit dem wir auch schon am Vortag nach Hiroshima gefahren waren. Erneut klingelt also früh der Wecker und wir verlassen das Hotel gegen 6:15, um mit einem Nahverkehrszug zum Shinkansen-Bahnhof anzureisen.

Aufgrund eines Arbeitsunfalls hat der Rapid um 6:21 an diesem Morgen rund 8 Minuten Verspätung. Daher trifft der Local um 6:30 an Gleis 7 zuerst im Bahnhof Ōsaka ein. Als sich der Rapid auch kurz vor 6:30 noch nicht ankündigt, steige ich in den Local ein mit der Hoffnung, der Fdl würde diesen Zug vorfahren lassen. Immerhin bestünde für den Rapid die Möglichkeit, zumindest bis Shin-Ōsaka das Expressgleis der viergleisigen Tōkaido Main Line zu nutzen und dadurch den Local erst später oder „fliegend“ zu überholen. Tatsächlich wird der Einhaltung der korrekten Zugreihenfolge jedoch Vorrang eingeräumt und so wartet der Local, bis der Rapid mit inzwischen +10 abgefahren und der vorausliegende Block frei ist. Mit +3 verlassen wir Ōsaka und kommen in Shin-Ōsaka mit +5 an, da der Local dort vor dem Bahnhof warten muss, bis der Rapid das Gleis freigibt. Ein aus Deutschland nur zu gut bekanntes Phänomen (Köln, Frankfurt, Mannheim, Stuttgart, …).

Glücklicherweise haben wir die Umsteigezeit zum Shinkansen in Shin-Ōsaka auf unsere deutschen Gewohnheiten ausgelegt und sind damit trotz Verspätung des Zubringers überpünktlich am Bahnsteig.





554 Kilometer misst die San’yō-Shinkansen von Shin-Ōsaka bis Hakata insgesamt, die wir gerade in unter drei Stunden geschafft haben. Die Reise mit dem Shinkansen fühlt sich echt schnell an. Das liegt u. a. auch an der gleichmäßigen Fahrweise des Zuges: Beschleunigung und Verzögerung fast direkt an die / ab der Halteposition am Bahnsteig, exklusive Infrastruktur bis in die Innenstädte (also kein Warten auf freie Einfahrt) und direkte „geradlinige“ Trassierung der Strecke. Damit können bei hohen Durchschnittsgeschwindigkeiten über 200 km/h auch solche Entfernungen bequem als Tagesausflug überwunden werden.

Dass der Bahnhof der Stadt Fukuoka den Namen „Hakata“ trägt, ist für manchen Touristen zunächst wenig intuitiv. Der Name hat jedoch einen historischen Hintergrund: Die Siedlung, die sich ursprünglich an Stelle der heutigen Stadt befand, trug zunächst den Namen „Hakata“. Im 17. Jahrhundert gründete ein Fürst im Westen der heutigen Stadt eine Burg, die er einschließlich der umliegenden Siedlung „Fukuoka“ nannte. Die beiden benachbarten Siedlungen Fukuoka und Hakata wuchsen in den folgenden Jahrhunderten durch den Bevölkerungsanstieg und die Urbanisierung langsam zusammen. 1889 wurden sie im Zuge einer Gebietsreform zusammengelegt und die vereinigte Stadt sollte den Namen „Fukuoka“ tragen. Da der Bahnhof, der sich später zum Hauptbahnhof entwickeln sollte, jedoch auf dem Gebiet der früheren Siedlung Hakata liegt, hat er den Namen „Hakata“ bis heute behalten. Der Name „Fukuoka“ gilt indes dem Endbahnhof der Privatbahn Nishitetsu, der sich heute im zentralen Stadtviertel Tenjin befindet.
Der Bahnhof Hakata ist zugleich für den Shinkansen die Verwaltungsgrenze zwischen JR West und JR Kyūshū. Allerdings führt die Strecke der JR West noch einige Kilometer weiter in den Süden der Stadt zum dortigen Shinkansen-Betriebshof. Aufgrund der sonst nicht vorhandenen Anbindung der südlichen Stadtteile an den Schienenverkehr gibt es dort noch einen Bahnhof: Hakataminami („Hakata Süd“, da „minami“ gleichbedeutend mit „Süden“ ist). Viele Kodama-Züge der San’yō-Shinkansen fahren von Hakata aus weiter als namenlose Züge der Gattung Limited Express nach Hakataminami. Diese Züge werden offiziell der Hakataminami Line zugeordnet, also einer „konventionellen“ Eisenbahnstrecke der JR West, die jedoch faktisch als normalspurige Shinkansen-Trasse ausgebaut ist und ausschließlich mit Shinkansen-Zügen betrieben wird. Weitere Pendelzüge zwischen Hakata und Hakataminami ergänzen das Angebot. Fahrgäste zahlen auf dieser Strecke, da es sich um Stadtverkehr handelt, nur einen recht geringen Zuschlag von 130 Yen (0,80 €) für den Limited Express.

Die Hakataminami Line werden wir aber nicht nutzen, da es um den südlichen Bahnhof herum außer dem Shinkansen-Depot nicht viel zu sehen gibt und der Bahnhof keine Verbindung zum übrigen Schienennetz aufweist. Statt dessen sehen wir uns in der Innenstadt um.








Am Bahnsteig begegnen uns noch einige interessante Züge, bevor wir unsere Reise mit JR Kyūshū fortsetzen (für die starke Nachbearbeitung der Bilder 6-18 – 6-22 aufgrund des „dunklen“ Ambientes im Bahnhof bitte ich um Verständnis).


Bis 2022 hatte noch der Limited Express „Kamome“ die Großstadt Nagasaki direkt an das nationale Fernverkehrsnetz angebunden. Im September 2022 wurde dann die Nishi-Kyūshū-Shinkansen eröffnet, eine Schnellfahrstrecke, welche die Reisezeit zwischen Hakata und Nagasaki um (realistisch) rund 20 Minuten reduziert. Die Besonderheit der Nishi-Kyūshū-Shinkansen ist, dass es sich bei der Strecke um einen Inselbetrieb handelt. Sie führt von Nagasaki über 66 Kilometer bis zum Bahnhof Takeo-Onsen, hat dort aber keinen Anschluss an eine andere Shinkansen-Strecke. Shinkansen-Reisende müssen daher in Takeo-Onsen bahnsteiggleich in einen Fernverkehrszug umsteigen, der auf dem Kapspur-Netz nach Hakata fährt. Da der Linienname „Kamome“ an die Züge des Nishi-Kyūshū-Shinkansen übergegangen war, tragen die „Shuttlezüge“ auf der Schmalspur den Namen „Relay Kamome“. Langfristig soll die rund 50 Kilometer lange Lücke zwischen Takeo-Onsen und der Kyūshū-Shinkansen, wahrscheinlich mit Anschluss am Bahnhof Shin-Tosu, geschlossen werden. Offen ist aber noch, ob diese Verbindung als Neubaustrecke nach Shinkansen-Standard oder als „Mini-Shinkansen“, d. h. als Umspurung oder Ausbau der Schmalspur-Strecke mit Dreischienengleis, ausgeführt werden soll. Die Idee, die Strecke mit umspurbaren Fahrzeugen zu betreiben, wurde nach mäßig zufriedenstellenden Testergebnissen mit mehreren Versuchsträgern verworfen.



Die Baureihe 885, die auf dem Limited Express „Sonic“ zum Einsatz kommt, erinnert äußerlich stark an den ICE-T. Tatsächlich hat das Fahrzeug ebenfalls eine aktive Neigetechnik. Die Züge der Baureihe 885 werden inoffiziell als „White Sonic“ bezeichnet. Daneben verkehren auf dem Limited Express Sonic noch Züge der Baureihe 883 als „Blue Sonic“. Der Sonic fährt von Hakata zunächst über die Kagoshima Main Line parallel zum San’yō-Shinkansen in die Stadt Kitakyūshū und nutzt von dort die Nippō Main Line bis nach Beppu und Ōita. Obwohl ein Umweg, ist diese küstennahe Route schneller als die direkte Inlandsverbindung von Hakata nach Ōita / Beppu, die der Limited Express Yufu und der Ausflugszug aus Bild 6-20 nutzen. Wir fahren heute mit dem Sonic 21 um 12:00 von Hakata nach Kokura, dem Hauptbahnhof von Kitakyūshū. Sonic 21 gehört zum schnellen Takt, der zwischen beiden Städten nur zweimal hält. Dazu versetzt gibt es auch noch einen langsamen Takt mit mehr Unterwegshalten.

Kitakyūshū ist eine im Jahr 1963 verwaltungsrechtlich eingerichtete Stadt, die aus mehreren Teilstädten im Norden Kyūshūs besteht – daher auch der Name („Kita“ heißt „Norden“). Die größte Teilstadt ist die Industriestadt Kokura, in der sich der gleichnamige Hauptbahnhof befindet, der vom San’yō-Shinkansen und den Schmalspur-Hauptstrecken der JR Kyūshū bedient wird. Kokura war aufgrund der Bedeutung der Stadt für die japanische Rüstungsindustrie im 2. Weltkrieg als Ziel des Abwurfs der zweiten Atombombe vorgesehen. Wegen schlechter Sichtverhältnisse musste der Pilot des Bombers, der die Atomwaffe an Bord hatte, jedoch auf das alternative Ziel Nagasaki ausweichen (dort war die Sicht ebenfalls nicht gut und die Bombe wurde schließlich nur wenig zielgenau über einem Wohngebiet abgeworfen, da dem Flugzeug der Treibstoff ausging). Auch nach dem Ende des Krieges galt Kokura mit seinem Tagebau und mehreren Stahlwerken lange als dreckige Industriestadt mit starker Luft- und Wasserverschmutzung. Heute ist dem aufgrund des gezielten Engagements der Zivilgesellschaft nicht mehr so. Die Stadt ist genauso sauber wie alle anderen Städte Japans und hat inzwischen auch einen bedeutenden Dienstleistungssektor neben den nach wie vor aktiven Industriebetrieben, die maßgeblich zum Wohlstand Japans in der Nachkriegszeit beigetragen haben. Bahnfreunde kommen in der Stadt allerdings auch auf ihre Kosten:

Bei der Kitakyūshū Monorail handelt es sich um eine rund 9 Kilometer lange Einschienenbahn vom Typ ALWEG, die auf erhöhter Trasse durch die Stadt Kokura führt und die Funktion einer Stadtbahn einnimmt. Sie beginnt direkt im Bahnhof Kokura und endet an der Station Kikugaoka im Süden der Stadt, an die sich der Betriebshof anschließt. Selbstverständlich kann auch für die Fahrt mit dieser Bahn die ICOCA-Bezahlkarte genutzt werden.




Von der Endstation der Monorail aus ist es nur ein kurzer Fußweg zum Haltepunkt Shiikōen an der Hitahikosan Line der JR Kyūshū, einer eingleisigen Dieselstrecke, die von Kokura landeinwärts bis nach Soeda führt. Bis 2016 ging die Nebenbahn noch weiter durch gebirgiges Terrain bis nach Yoake, einem Knotenpunkt mit der Kyūdai Main Line (das ist die bereits angesprochene direkte Inlandsverbindung von Hakata nach Ōita / Beppu). Nach erheblichen Schäden an der Infrastruktur durch einen Taifun hat JR Kyūshū allerdings beschlossen, den Abschnitt Soeda – Yoake dauerhaft auf Busverkehr umzustellen.


Der Haltepunkt Shiikōen ist nicht durch örtliches Personal besetzt, also eine „unstaffed station“. Daher ist der Bahnsteig hier frei zugänglich. Ein großes Schild am Fahrscheinautomaten weist Fahrgäste darauf hin, dass vor dem Zustieg unbedingt eine Fahrkarte benötigt wird – sonst kommt es zu Problemen beim Verlassen der Bahnsteigsperren am Zielort. Der Automat selbst ist allerdings recht rudimentär gehalten und kann über Zieltasten nur Fahrkarten zu den anderen Stationen der Hitahikosan Line sowie im übrigen Stadtgebiet von Kitakyūshū verkaufen. Fahrgäste, die zu anderen Zielen reisen möchten, können hier zunächst eine Fahrkarte z. B. bis Kokura als Anfangsstrecke ziehen und dann am Zielort die fehlende Tarifdifferenz nachlösen (dafür stehen innerhalb der Sperren überall Nachzahlungsautomaten). Wichtig ist nur, dass beim Einstieg eine Fahrkarte vorhanden ist, die den Abgangsort nachweist.

Ab Kokura fahren wir weiter zum Bahnhof Mojikō, dem nördlichen Endpunkt der Kagoshima Main Line.




Rund 10 Minuten dauert die Fahrt zum nördlichsten (JR)-Bahnhof Kyūshūs. Mojikō war vor dem Bau des ersten Kanmon-Tunnels im Jahr 1942, der noch heute von den Zügen der schmalspurigen San’yō Main Line genutzt wird, das Tor zur Insel Kyūshū. Fahrgäste aus Honshū wurden von der gegenüberliegenden Stadt Shimonoseki per Fähre über die Kanmon-Straße nach Moji gebracht, wo sie am heutigen Bahnhof Mojikō auf die Züge des Eisenbahnnetzes von Kyūshū umsteigen konnten. Mit dem Bau des Tunnels hat der Bahnhof Mojikō seine ursprüngliche Bedeutung für den Transitverkehr von und nach Honshū verloren. Erhalten ist bis heute jedoch das historische Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1914 zusammen mit einigen anderen historischen Gebäuden in der Umgebung, die als „Mojikō Retro“ bezeichnet wird.






Mojikō ist der nördlichste JR-Bahnhof Kyūshūs, aber streng genommen nicht der nördlichste Bahnhof (bzw. Haltepunkt). Denn gegenüber des Bahnhofs Mojikō befindet sich einer der beiden Endpunkte der Mojikō Retro Scenic Line, einer rund 2 Kilometer langen Strecke, die sehr nah an die (natürliche) Nordspitze der Insel heran fährt.

Die Touristenbahn ist aus einer früheren Güterstrecke hervor gegangen. Sie wird ganzjährig im Ein-Zug-Betrieb von der in Bild 6-42 gezeigten Komposition befahren. Aufgrund des hohen Andrangs am Wochenende verzichten wir auf die kurze Fahrt und machen uns auf den Rückweg nach Ōsaka.






Moji ist der Bahnhof, an dem die Strecke durch den 1942 eröffneten (alten) Kanmon-Tunnel abzweigt. Diese Strecke ist bis Moji als San’yō Main Line gewidmet, wird allerdings auf dem Tunnelabschnitt von Moji bis Shimonoseki durch JR Kyūshū betrieben. Erst in Shimonoseki erfolgt die Übergabe durchgehender Züge an JR West. Durch den Tunnel fahren im Personenverkehr Zweisystem-Triebwagen der Baureihe 415. Das ist notwendig, da die San’yō Main Line bis nach Moji mit Gleichstrom betrieben wird, während das Netz der JR Kyūshū mit Wechselstrom elektrifiziert ist. Der Systemwechsel erfolgt im Bahnhof Moji. Die Nahverkehrszüge von Kokura über Moji nach Shimonoseki sind derzeit die einzigen Personenzüge, die planmäßig durch den alten Kanmon-Tunnel fahren. Der Fernverkehr hat sich mit dem Bau der San’yō-Shinkansen inzwischen vollständig auf die Schnellfahrstrecke verlagert. Die Schmalspurstrecke hat aber noch eine große Bedeutung für den Güterverkehr.



Fahrgäste müssen am Bahnhof Shimonoseki, der Verwaltungsgrenze zwischen JR Kyūshū und JR West, zur Weiterreise immer umsteigen. Wir setzen unsere Fahrt mit dem älteren Triebwagen der JR West bis zum Shinkansen-Bahnhof Shin-Shimonoseki fort, der etwas abseits der Stadt liegt. Dort haben wir Glück, denn um 16:47 hält ein Sakura in Shin-Shimonoseki, der uns direkt und zügig nach Shin-Ōsaka zurück bringt.


Die Geschwindigkeit der durchfahrenden Züge ist sehr beeindruckend – ebenso wie der dank des aerodynamischen Designs recht geringe Lärmpegel, wenn sie mit weit über 200 km/h im Abstand von nur wenigen Metern an den wartenden Fahrgästen vorbei fahren.





Nach diesem erneut langen Reisetag genießen wir noch ein wenig die abendliche Stimmung, bevor wir mit einem kleinen Abendessen aus dem Konbini in unser Hotel zurück kehren. Am nächsten Tag ist wieder einmal, aber zum Glück auf dieser Reise letztmalig, frühes Aufstehen erforderlich. Dafür werden wir mit der schönen Aussicht einer ländlichen Hauptstrecke abseits der Shinkansen-Trassen belohnt.


