Der zweite Tag beginnt mit dem selben Wetter, mit dem der erste Tag aufgehört hat: Nebel. In der Stadt bzw. auf dem Weg zum Bahnhof ist der Nebel noch nicht besonders deutlich zu erkennen, auf der anschließenden Zugfahrt aber umso eher.


Der erste (und einzige) Zwischenhalt unserer Reise ist heute die Stadt Boulogne sur Mer, die schon nach 40 Minuten erreicht sein wird. Unser Zug wird für Gleis 1 angekündigt. Dort steigen wir in das bereit stehende AGC (autorail à grande capacité) ein.

Die AGC sind mehr oder weniger die „Allrounder“ der SNCF im französischen Regionalverkehr. Sie sind in allen Regionen auf fast allen Strecken vertreten. Auch wir werden diesem Fahrzeugtyp in den kommenden Tagen noch sehr häufig begegnen. Zunächst wundere ich mich noch über das deaktivierte FIS und den Umstand, dass wir im Zug alleine sitzen. Als nach 10 Minuten jedoch am Bahnsteig gegenüber ein weiteres AGC einfährt und die wartenden Passagiere dort einsteigen, gehen wir doch zur Sicherheit noch einmal nachschauen. Dabei stelle ich fest, dass wir tatsächlich am falschen Bahnsteig eingestiegen sind. Der Zug, in dem wir vergeblich auf Mitreisende warteten, stand an Bahnsteig B, während die eigentliche Abfahrt an Gleis 1 am selben Bahnsteig gegenüber stattfindet. Dieses System mit einer Mischung aus Buchstaben und Zahlen bei der Bahnsteigbezeichnung, teilweise auch an einem gemeinsamen Mittelbahnsteig, ist in Frankreich nicht unüblich. Der Zug an Gleis B wäre später nach Dunkerque gefahren. Wir setzen uns indes mit geringer Verspätung in Richtung Boulogne in Bewegung. Von den ausgiebigen Gleisanlagen am Eurotunnel ist wegen des Nebels leider nichts zu sehen. Später, nachdem es ein wenig auflockert, bin ich dann jedoch überrascht, wie hügelig die Landschaft südlich von Calais wird, obwohl wir uns in Küstennähe befinden.
Unser Zug ist einer von nur zwei Zügen pro Werktag und Richtung, der zwischen Calais und Boulogne alle Unterwegshalte bedient. Trotzdem sind an den kleinen Haltepunkten einige Fahrgäste zugestiegen. Am Bahnhof Boulogne Tintelleries, den wir später noch besuchen werden, leert sich der Zug dann fast vollständig. Wir bleiben noch bis zum Stadtbahnhof Boulogne Ville im Zug, den wir um 8:37 erreichen. Dort steigen wir um auf den Stadtbus der Linie F.

Mit dem Bus fahren wir zunächst zum „Ausstieg am Meer“ (die Haltestelle heißt tatsächlich so). Im Gegensatz zum Nebel in Calais scheint hier ein wenig Sonne. Anschließend gehen wir gemütlich zurück in Richtung Innenstadt und mache uns dann an den beschwerlicheren Aufstieg zur befestigten Altstadt, der „Ville fortifiée“. Der lange und steile Weg wird sich allerdings lohnen.


Hier blicken wir landeinwärts.





Den verbleibenden Reisetag nutzen wir nun für eine lange Reisekette mit vielen Umstiegen und nur einem wesentlichen Ziel: Paris umfahren! Das auf Paris zentralisierte Bahnsystem in Frankreich mit dem Zwang zum Bahnhofswechsel dort bietet nur in wenigen Fällen den Komfort einer Direktverbindung in der Provinz. Selbst wenn eine direkte Verbindung angeboten wird, kann sie länger dauern, als der Umweg über Paris. Trotz der wenigen Direktverbindungen haben wir für die heutige Fahrt eine komfortablere, wenn auch zeitintensive, Umsteigeverbindung gefunden, die Paris nordöstlich umfährt. Der Nachteil ist die lange Reisezeit von 9 Stunden, die wir von Boulogne bis zu unserem Tagesziel Granville noch vor uns haben. Die Fahrt beginnt am Bahnhof Boulogne Tintelleries. Dieser Bahnhof liegt deutlich näher an der historischen Altstadt als der Stadtbahnhof Boulogne Ville.

Die Abfahrt des Zuges nach Amiens war für 9:46 vorgesehen. Um 9:43 fährt am Bahnsteig ein AGC mit Fahrtziel „Boulogne Ville“ vor. Laut Fahrplan handelt es sich um einen verspäteten früheren Zug. Trotzdem fahren wir das kurze Stück zum Stadtbahnhof mit und fragen beim Zugbegleiter nach, wo wir in Boulogne Ville den Zug nach Amiens finden. Seiner Auskunft zufolge müssen wir zu Gleis 2 wechseln, wo der Anschluss in Kürze eintreffen wird. Auch in Boulogne ist die Nummerierung der Bahnsteige allerdings nicht intuitiv. Sie ergibt sich daraus, dass die vom Empfangsgebäude aus betrachtet 3. und 4. Gleise die durchgehenden Hauptgleise der Strecke Paris – Calais sind und daher mit 1 und 2 bezeichnet werden. Insgesamt ergibt sich somit die Nummerierung: 5 – 3 – 1 – 2 – 4 zuzüglich der beiden Stumpfgleise 7 und 9.
Der Zug nach Amiens wird erneut von einem AGC gefahren. Die Elektrifizierung der Strecke aus Richtung Calais endet am Bahnhof Rang du Fliers-Verton, dem Endbahnhof der durchgehenden TGV-Verbindungen aus Paris über Lille. Dort findet für unseren Zweikraft-Triebwagen der Systemwechsel statt. Während des Zwischenhalts wird der Stromabnehmer eingefahren und der Dieselmotor angeworfen. Wir dieseln nun weiter bis zum Ende der Fahrt in Amiens.


Die Gleise im Hintergrund enden stumpf vor der Empfangshalle.
Die gebogenen Gleise im Vordergrund führen daran vorbei und in Tieflage durch die Innenstadt.

die sich aus der Haupthalle heraus fortsetzt.

Die nächste Zugfahrt führt nach einer Stunde Mittagspause in Amiens weiter nach Rouen. Dafür erwartet uns zur Abwechslung ein Doppelstocktriebwagen der Bauart „TER 2N NG“. 2N steht dabei für „deux niveaux“ und NG für „nouvelle génération“.

Die Fahrt führt überwiegend durch die eintönige und landwirtschaftlich geprägte Weite der Picardie. Spannender wird die Landschaft erst im Zulauf auf Rouen, der durch ein hügeliges, aber dennoch dicht besiedeltes Tal führt. Nach 1,5 Stunden ist der mit einem Parkdeck überbaute Bahnhof von Rouen erreicht.

An dieser Stelle müssen wir die Eisenbahn vorerst verlassen, denn die Weiterfahrt nach Caen findet nicht auf der Schiene, sondern auf der Straße statt. Zwischen Rouen und Caen besteht zwar im Fahrplan der SNCF ein durchgehender 2-Stunden-Takt, jedoch werden die Abfahrten um 10:00 und um 14:00 in beiden Richtungen durch Reisebusse an Stelle von Zügen gefahren. Die Busse verbinden Rouen und Caen ohne Halt über die Autobahn direkt miteinander. Unser Bus hält in Rouen direkt vor dem Bahnhofsgebäude auf einem eigens dafür ausgewiesenen Parkplatz.


Die Abfahrt erfolgt pünktlich und die Auslastung des Busses lässt keinen Zweifel daran, dass die Kapazität für diese Fahrt keinen Zug rechtfertigen würde. Rund 25 Fahrgäste sind an Bord. Dieser Wert ist für einen Fernbus nicht schlecht, für einen Zug aber doch eher unzureichend. Wir kommen insgesamt gut durch den stets fließenden Verkehr und selbst die obligatorischen Zwischenhalte an den gares de péage (Mautstellen) fallen dank automatischer Mauterfassung kurz aus. So erreichen wir Caen bei einer planmäßigen Fahrzeit von 100 Minuten mit -8. Nun kehren wir zur Eisenbahn zurück, wobei uns erneut ein AGC erwartet.

(links befindet sich das Empfangsgebäude des SNCF-Bahnhofs)


Damit treten wir die letzte Zugfahrt des Tages an. Das AGC bringt uns bis nach Coutances rund 10 km vor der Küste.

Damit ist die Reise für diesen Tag aber noch nicht ganz beendet. Ein kurzer Abschnitt fehlt noch, um unser Tagesziel Granville zu erreichen. Auch diese Strecke von Coutances nach Granville sollte wieder mit einem Car TER, einem Reisebus der SNCF, bewältigt werden. Im Zug wurde eigens darauf hingewiesen, dass der Bus nach Granville auf dem Bahnhofsvorplatz abfährt. Nach wenigen Minuten fährt ein Bus mit der Aufschrift Granville vor, der bereits gut mit Schülern besetzt ist. Trotzdem steigen wir, wie alle anderen Umsteiger aus dem Zug, mit zu. Der Bus fährt bereits um 17:32 (5 Minuten vor der Abfahrtszeit gemäß SNCF-Fahrplan) los und hält unterwegs an verschiedenen Haltestellen zum Ausstieg. Den Bahnhof von Granville erreichen wir um 18:12.

Nach 20 Minuten holt uns dort ein Stadtbus für die letzte Meile bis zum Hotel ab. Der Stadtverkehr in Granville ist mit Ausnahme einiger Schulbusse kostenlos. Leider sieht man das dem Zustand des Fahrzeuginnenraums aber auch an.
Nach der Ankunft im Hotel unternehmen wir noch einen kleinen Rundgang durch die Haute-Ville (Oberstadt) zur Pointe du Roc. Diese markiert die Spitze der Halbinsel, auf der die Stadt Granville gebaut wurde.








Côte d’Émeraulde

denn aus dieser Perspektive sieht sie tatsächlich wie eine Stadt über der Stadt aus.